VOM UNBEHAGEN IN DEN KULTUREN
Chefdramaturgin Patricia Nickel-Dönicke hat mit Autor Dirk Laucke zu seiner kommenden Uraufführung "Nur die Harten (kommen in den Garten)" am Theater Oberhausen gesprochen;
Premiere: 3. Juni 2018
In deinen Theaterstücken müssen die Figuren immer wieder Entscheidung treffen, die oft Konsequenzen für ihre weitere Lebensführung und ihr näheres, privates Umfeld nach sich ziehen. In deinem neuen Stück „Nur die Harten (kommen in den Garten)“ muss wirklich jede Figur in einem zentralen, unvorhersehbaren Moment eine Entscheidung treffen, die bezogen auf die Situation von 2015 gesamtgesellschaftlich zu betrachten ist. Worin besteht ihr Dilemma?
Der Plattenhändler Jörg braucht dringend Geld, unter anderem weil seine Frau an einer bipolaren Störung erkrankt ist und in den Hochphasen das Geld händeweise aus dem Fenster geschaufelt hat. Unter anderem aber nicht unerheblich deswegen, weil er eben Plattenhändler ist. Schon mal auf dem Musikmarkt umgesehen? Download und Cloud! Platten sind was für ausgewählte Liebhaber, die es in seiner Region anscheinend nicht so zahlreich gibt, dass sie ihm den Kopf aus der Schlinge ziehen würden. Kumpel Ludi meint es gut mit ihm und bezahlt Jörg dafür, den Ton für eine Art Film an Europas Außengrenze aufzunehmen, an einer Route der Flüchtlinge. Dort angekommen merkt der alte Jörg aber doch, dass ihm Ludis Vorhaben (das eigentlich die Idee von dessen neuer Flamme Mina ist, die mit ihrer Kamera filmt) tierisch auf den Wecker geht. Es handelt sich nämlich um "Kunst." Schlimmer noch: mit aktionistischem Ansatz! Statt einfach festzuhalten, was die über die Grenze strömenden Menschen zu sagen haben, filmen sie lediglich deren Laufen für eine spätere Kunstaktion in einem Einkaufs-Center daheim. Dabei könnten die drei mit einer realen Doku wahrscheinlich auch reales Geld verdienen! Kohle, die Jörg braucht! Und wäre das so böse? Die Welt hält schließlich in der Flüchtlingskrise den Atem an und dürstet doch nur so nach Bildern, Interviews und Nah-Dran-Aufnahmen. Das ist das Dilemma Jörgs: er wird von Ludi für etwas unkommerzielles bezahlt, dabei haben sie alles beisammen, um a) etwas Gutes zu tun (aufklären) und b) dabei so viel Kohle zu machen, dass Jörg für reinen Tisch sorgen könnte. Das Dilemma verschärft sich, als die gesamte Produktion quasi baden geht, Jörg aber die Chance erhält, selber Flüchtlinge in seinem PKW nach Deutschland zu schmuggeln. Natürlich gegen Bares, keine Frage. Wogegen Ludi einwendet, dass man eine so selbstverständliche Hilfe doch frei Haus zu präsentieren hat, das sei moralische Pflicht. Hier steht – wie in allen anderen Konflikten zwischen den Figuren – die zentrale Frage nach der Wirtschaftlichkeit gegen das positive Ansinnen der Hilfe. So haben auch Kickboxer Amir und Renee in Jörgs Heimatstadt keine Lust, ihre Turnhalle für eine Notunterkunft herzugeben. Immerhin hat Amir dort ein kleines Trainergehalt verdient. Jörg schuldet ihm Geld, aber damit wird er ja kaum rechnen können (so entsteht im Stück eine Abhängigkeitskette.) Und das aller wichtigste es handelt sich bei der Turnhalle in Amirs Augen um eine Art Zuhause, das sie nun räumen müssen. Als er und Renee aber sehen, dass ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit nur drei Fingern an einer Hand sich prima in einem realen Zweikampf mit einem ekligen Typen macht, investieren sie so richtig in ihren neuen Schützling. Am richtigen Ort ist das Mädchen ja schon mal. Und ein vielversprechendes Talent ist es auch. Ein weiblicher Kickboxstar mit Behinderung – warum nicht? Das Dilemma ist auch hier, ob es von den in den Schützling gesteckten Erwartungen abhängt, wie weit die Hilfe geht? Ich sage mal nur so viel: Renee, Amir und auch Jörg riskieren später mehr als nur eine dicke Lippe.
In „Nur die Harten (kommen in den Garten)“ sind zwar freundschaftliche Bindungen ebenfalls mit im Spiel, allerdings verhandeln die Figuren gemeinsam Fragen, die schnell auf eine andere Ebene wechseln und so in einem direkteren Sinne politisch sind. Was hältst du von dem Wort «politisch» im Theater?
Das Wort hat mir nichts getan. Trotzdem langweilt es mich in Bezug auf Theater. Denn seine Verwendung gibt nicht selten vor, etwas Außergewöhnliches zu markieren. Und das sage ich, obwohl oder weil ich häufig Stücke schreibe, deren Anliegen, Situationen oder Settings grundsätzlich etwas mit sozialen oder politischen Bedingungen zu tun haben. Allerdings sind dominierende Faktoren in meinen Stücken nicht allein diese politischen Folien, sondern die Figuren, die immer konkret und individuell beschaffen sind und auch so agieren. Meist versuchen sie auch nicht die große Politik zu verändern. Mina und Ludi sind da als aktionistische Künstler fast eine Ausnahme, doch auch ihnen geht es mehr um die eine Aktion. (Vielleicht ja auch ein bisschen um den Ruhm, der danach winkt?) Was sie mit den übrigen Figuren eint, ist vielleicht eher ein rebellischer Einsatz, sobald es ihnen zu bunt wird oder weil jemand eine zündende Idee hat. Und Hand aufs Herz: ein Agitations- oder Aufklärungsauftrag würde mich zu Tode langweilen; da macht es viel mehr Spaß, mit meinen Figuren eine Geschichte zu entwickeln und zu erleben. Ich glaube, wenn man sich auf Individuen einlässt, fallen die Antworten auf die brennenden Fragen der Zeit – oder was auch immer - dann zwar nicht so einfach aus, bzw. sehe ich mich keiner klaren Antwort verpflichtet. Hätte ich die Chuzpe oder das Know-how für so eine Großmäuligkeit, würde ich vermutlich mit Abhandlungen, Leitfäden und Ratgebern gutes Geld verdienen. Aber ich bin der Überzeugung, dass gerade das Hochhalten von Individuen, zudem von denen, die das sogenannte Leben nicht gerade auf Rosen gebettet hat, ein wichtiger Schritt ist, weder Ideologien (frei nach Marx: als illusorische gesellschaftliche Vorstellungen) noch Verwaltungsprozessen oder ökonomischen Unabdingbarkeiten das letzte Wort zu geben. Meine Aufgabe besteht eher darin, zu verschwinden. Denkt man die gesamte Dauer eines Stückes über den Autor nach, habe ich offen gestanden etwas falsch gemacht. Oder die Leute sind schon so verrückt, dass sie nicht mehr genussfähig sind.
Dass sich Theaterschaffende momentan recht viel mit politisch relevanten Themen bzw. Politik beschäftigen, mag richtig sein, ist aber irgendwie auch eine blöde Feststellung. Denn sie verdeckt, dass es immer so war. In der Antike verhandelten Dichter wie Aischylos, Sophokles und Euripides just vergangene Kriege und Rechtsfragen im Staat – ohne, dass ihre Werke den Anspruch auf Spannung, überraschende Wendungen oder Konflikte haben missen lassen. Die Komödiendichter gingen sogar noch weiter und lieferten ihre Zeitgenossen der mehr oder weniger verdeckten Kritik aus. Auch Shakespeare beschäftigte sich sogar in einer Komödie mit den ersten Blüten des Kapitalismus verbunden mit dem Antisemitismus – in seinem Kaufmann von Venedig. Weitere Namen ploppen unmittelbar in meinem Hirn auf: Lenz, Büchner, Arthur Miller, Tschechow, Horvarth, Heiner Müller, Thomas Brasch, Jelinek ... Zumindest das mir bekannte Theater war stets aktuell und hat – selbst mit klassischen Produktionen – in der jeweiligen Zeit Stellung bezogen oder Kommentare zur gegenwärtigen Lage abgegeben. Wilhelm Tells Satz bei Schiller für die Gedankenfreiheit sorgte in der DDR für lauten Szenenapplaus. Das ist ja das Interessante am Theater, dass wir den heutigen Tag bei der Rezeption so vollständig nicht vergessen. Machen wir also nicht so einen Zirkus darum, wenn Theater sich mit politischen Themen beschäftigt, sondern schauen mal wie das Politische im Theater denn überhaupt stattfindet und welchen Inhalt es hervorbringt. In vielen Punkten würde ich dem Dramatiker David Mamet recht geben, der behauptet, dass "issue plays" oft lediglich einer narzisstischen Beweisführung dienen, die an sich lapidar ist. Der Kapitalismus ist unfair, wäre so ein Klassiker. Oder: die diskriminierte Gruppe XY sind auch nur Menschen und verdient Respekt. Wer hätte das wohl gedacht? Mamet geht sogar weiter und sagt, dass wenn Stücke besonders "arty" um die Ecke kommen, oft nur dann von einem Publikum Erfolg erheischen, das von sich aus sagt: ich mag diese Art von unverständlichem, aber progressiven Zeug, denn ich fühle mich solchen verrückten und progressiven Künstlern wie der Regie verbunden, ich bin ja auch so, und man sollte sie fördern. Ob dabei dann Nonsens als progressiv gilt, ist zweitrangig. Da finde ich ehrlich gesagt bewussten Slapstick sympathischer. Den kann man natürlich auch mit der Politik treiben – und wie! Aber oft genug habe ich den Eindruck, man versuchte komplexen Themen mit möglichst vielen Assoziationen zu begegnen, etwa in den Textflächen Jelineks und ihrer Adepten, die gerne zwanzig oder zweihundert Seiten lang sein dürfen – das spielt eigentlich keine Rolle, denn wichtiger ist, dass der Kunst der Anstrich von Politischem gegeben wurde und unterstrichen wurde, mit wie vielen Dingen sich die Künstlerin oder der Künstler so alles beschäftigt hat.
Welche moralphilosophischen Strömungen haben dich beim Schreiben beeinflusst?
Alle. In meiner langjährigen und ganzheitlichen Recherche habe ich mich jedoch ganz besonders den frühen Links-Hegelianern und den radikalen Solipsisten gewidmet, die sich mehr Austausch mit Gleichgesinnten wünschten. (Bei den von mir hochgeschätzten Bertrand Russel, Richard Rorty und Arundhaty Bikhandanath Padma finden sie eingehend Erwähnung.) Im besonderen Maße erfuhren diese moralphilosophischen und erkenntnistheoretischen Geistesschulen Nachhall im anti-kulturalistischen, utilitaristischen Ansatz der ukrainischen Anarchisten um den Genossen A. Shapiro, wie sie der Historiker Serhij Zhadan in seinem schmalen Essayband "Die Erfindung des Jazz im Donbass" umfassend beschreibt und in ihm einige fruchtbare Erkenntnisse für die heutige Modalität der Subjekte im Turbokapitalismus abzutrotzen vermag – etwa im Sinne einer übergreifenden nicht ethnisch oder kulturell gebundenen Solidarität, die sich, folgen wir Zhadans Deutung, beispielhaft abspielte zwischen post-kolonial geprägten, farbigen Jazz Musiker*innen, die für die gemeinsame Sache der Revolution weithin reisten, und dem einfachen, verarmten ukrainischen Plebs (molodjeznuj rabotnik). Im gemeinsamen Kampf innerhalb des Rätesystems Nestor Machnos und Rosa Lippschatz' südlich von Woroschilograd verbanden sich urbaner Anspruch des Weltbürgers mit gelebter Solidarität unter der Idee vom "Verantwortungsgefühl der Distel", welche durch zahlreiche Exil-Genossinnen und Genossen im Juli 1905 in polnische Kreise des roten Ruhrgebiets schaffte und dort durch Pawel Kwiatkowiak und Wsewolod Nijinsky in Bergbau und der metallverarbeitende Industrie verbreitet wurde. Von Nationalsozialismus und Wirtschaftswunder wurden diese Ideen auf konträre Weise aber gleichermaßen verdrängt – durch eine Übermacht von Staatlichkeit (Shapiro/Zhadan greifen auf den "Leviathan" Thomas Hobbes zurück), nun aber von kleinen Kreisen post-proletarischer Selbstorganisation noch immer lebendig gehalten, ja von der Krise der (Sozial-)Demokratie geradezu beflügelt wird. Auf diesen Lehren fußt mein Werk. Unter anderem.
Deine Stücke haben immer einen eigenen Sound, eine hohe Rhythmisierung, du erfindest Begriffe, die eine vermeintlich umgangssprachliche Konnotation besitzen. Außerdem haben deine Stücke eine ganz bestimmte sprachliche Form: Zeitliche Schleifen, Wiederholung, sprachliche Verknappung, der Sprachfluss ist jeder Figur eigen und charakterisiert sie in gewisser Weise. Wie entsteht diese besondere Form? Und wie würdest du auf einen spontanen Zuschauerausruf „so spricht dich keiner“ kontern?
Ich finde eher, ich bin sehr realistisch und ich erfinde kaum, was die Sprache angeht. Ich rhythmisiere nicht. Oder finden sich da Hexameter oder ähnliches? Stabreime? Manchmal gibt es einen zügigeren Schlagabtausch zwischen den Figuren und manchmal einen schleppenden – das hängt von der Situation ab. Ganz so wie reale Menschen einander im Streit auch gerne mal nicht ausreden lassen und nicht unbedingt gelassen logisch die Argumente des Anderen aufgreifen, sondern plötzlich noch mal auf eine frühere Behauptung oder ein Fehlverhalten des Kontrahenten zurück greifen. Der Eindruck der Verkürzung entsteht vielleicht, weil wir in der Schriftsprache sagen würden: "Hallo, mein Freund, wie geht es dir? - Danke gut." In meinen Dialogen wie im Alltag würde ein Gespräch unter Freunden eher so laufen: "Und, läuft’s? - Läuft." Mal abgesehen davon, dass Wie-geht's-dir-Fragen nicht gerade die spannendsten für eine Handlung sind, leisten sich die Figuren Verkürzungen je nach Disposition, Situation, Gegenüber und dem Ziel ihrer Rede. Ich gebe jeder Figur einen möglichst genauen Sound, weil dies das Mittel ist, mit dem ich am meisten arbeite – dem Dialog und weil Menschen unterschiedlich reden, auch wenn es sich um Nuancen handelt. Da es oft wenig erzählt oder zumindest bezweifelt werden muss, was Figuren zum Beispiel über ihre Vergangenheit mitteilen, kriegen sie einfach einen konkreten Sprachgestus mit, also so etwas wie das Pendant dazu, dass sich die Leute unterschiedlich bewegen. In "Nur die Harten" gibt es einen Erzählstrang, den von Kickboxerin Renee und Kickboxer Amir, die sind sprachlich manchmal etwas überhöhter, orientieren sich im Wesentlichen aber an heute üblichem Straßenslang. So viele Neologismen gibt es auch nicht, ich greife am ehesten auf sie zurück, wenn Formulierungen z.B. Schimpfworte nicht ausgelutscht klingen sollen. Ich greife mal in den Text. Es gibt zahlreiche alternative Begriffe für "kaputte Zähne". Zum Beispiel "Beschädigte Kauleiste", "Fall für den Kieferorthopäden", "Lückengebiss". Ich habe mich für den Terminus "lückenhafte Dentalstruktur" entschieden, weil er weniger abgegriffen ist, weil er die medizinischen Kenntnisse von Kickboxern mit sich trägt und nicht zuletzt, weil dadurch ein schöneres Gefälle entsteht: eine fast naturwissenschaftliche Umschreibung in der Situation, in der diese Formulierung vorkommt, führt viel eher vor Augen, worum es hier geht – um wirklich miese Typen, die sich schon alle Zähne ausgeschlagen haben. Der Verzicht auf die Wertung bringt viel eher eine hervor. Ebenso wie Theaterfiguren über- oder untertreiben, lügen oder die Wahrheit sagen können, können auch sie mit der Sprache spielen, Ironie verwenden, Sarkasmus, Zitat und so weiter. Ich gebe mir ehrlich gesagt, die größte Mühe einen Sound zu treffen, der wahr sein könnte und würde dem Zuschauer daher antworten: Ich geb’s auf. Oder: Hör doch mal da draußen hin, so anders ist das nicht. Eine leichte Überhöhung findet sich übrigens auch in Filmen wie Trainspotting oder Fargo; und auch für Bühnen-Dramatiker ist das absolut nicht ungewöhnlich. Zum Beispiel Horvarth. In all diesen Fällen wird ein wirklichkeitsnaher Slang gefunden, dessen Hauptziel nicht ist, einen regionalen Dialekt perfekt abzubilden (sonst überwiegt der Wiedererkennungswert des Lokalkolorits), sondern ein soziales Klima für das Stück/den Film zu erfassen. Letztlich soll das bei mir roh sein, aber irgendwie auch so weich wie ein schmackhafter Kübel Rama in der Sonne. Jedenfalls ist das ein Ziel.
„Nur die Harten (kommen in den Garten)“ entstand im Rahmen deiner Hausautorenschaft am Theater Oberhausen. Welche Rolle hat diese Anbindung an ein Theater und dessen Schauspielensemble in deiner Arbeit gespielt? Welchen Einfluss nahmen deine beiden radiophonen Shows auf den dramatischen Text?
Was die Besetzung angeht, da habe ich mich völlig frei gemacht und keine bestimmte Schauspielerin und keinen bestimmten Schauspieler im Auge gehabt, weil das ja bitte schön die Regie entscheiden darf und soll. Von der Disponentin ganz zu schweigen. Insofern hat es für die Entwicklung des Stoffes keine Rolle gespielt, ob ich die Schauspieler*innen nun kenne oder nicht. (Es sind trotzdem sehr tolle und liebenswürdige Kolleginnen und Kollegen!)
Für die Shows hatten wir geplant, dass sie der Stoffentwicklung dienen. Aber mal ehrlich: Ich schreibe im Normalfall keine zusätzlichen Shows, um ein Stück zu verfassen. Trotzdem habe ich in der ersten Show "Die Freiheit in Abrede" Figuren, die im Stück auftauchen, nämlich das Dreier-Gespann Mina, Jörg und Ludi, schon mal testlaufen lassen. Sie haben die Show quasi gestaltet. Für diese Figuren typische Positionierungen und Redeweisen finden sich in der Show wie im Stück: Mina ist bedacht auf politisch korrekte Ausdrucksweise. Jörg scheint noch nie davon gehört zu haben. Und Ludi ist eher der schüchterne Mensch, der es vor allem sachlich richtig haben möchte, mit dem Herzen aber gut denkt. Auf den ersten Blick könnte man meinen: aber in der "Freiheit in Abrede" ging es ja um ein ganz anderes Thema, nämlich um die Meinungs- und Pressefreiheit. Für den zweiten Blick würde ich anmerken, dass die Debatten um Meinungsfreiheit, das Beleidigungsdilemma gegenüber Religionsvertretern oder Kulturen und die Suche nach politisch korrekten Ausdrücken auch im finalen Stück die Konflikte zwischen Mina, Ludi und Jörg befeuern. Zudem ist mit der Frage: Was kann man sagen? ja so eine Art Voraussetzung für alles weitere berührt.
Wie auch immer, für die zweite Show habe ich die Mühe aufgegeben, dem Personal aus dem Stück noch eine extra Show beikommen zu lassen. Denn das Stück war zu dem Zeitpunkt, als ich Show Nummer zwei "Unter uns Indianern" schrieb, längst auf einem Stand, in dem man es als halbwegs runde Sache bezeichnen könnte. Ich habe ja eher den Schreibprozess am Drama unterbrochen, um die zweite Show schnell zu schreiben und zu proben. Die Themenfelder der Shows haben zudem durchaus mit den Debatten am Theater Oberhausen zu tun, jedenfalls sofern ich das beurteilen kann. Die Frage danach, wie mit eventuell beleidigender Ausdrucksweise und anderen Kulturen umgegangen wird, hat ziemlichen Stellenwert am Haus. Ich wollte meinen Beitrag dazu leisten und offen aufs Tablett stellen. Insofern war das mit dem Hausautor meines Erachtens eine Sache, die eng am Haus lag.
Deine Arbeit am Stücktext war von ausführlichen Recherchen begleitet. Wie bist du vorgegangen?
Für die Shows habe ich wie gesagt intensiv recherchiert. Aber die Arbeit am Stück war von keinen zusätzlichen Recherchen begleitet. Ich habe ja auch kein Stück geschrieben über die Zeche Zollverein und ihre Abwicklung, sondern einen Stoff, der mir schon länger auf den Nägeln brennt. Die Idee mit den Kickboxern lag entsprechend schon auf meinem Schreibtisch, aber es fehlten noch die richtigen Figuren und die genaue Handlung. Da hat Bühnentechniker Dirk am Theater Oberhausen geholfen. Jedesmal, wenn wir uns auf dem Hof begegnen, rufe ich: "Moin, Dierk!" Und er antwortet "Moin, Dieeerch!" und erzählt z.B. von seiner beinharten Tochter, die ihr Sportturnier weiter durchzieht, auch wenn ein Gliedmaß längst mehrfach gebrochen ist. Bums, war die Figur Renee geboren. Dann habe ich mit Thomas vom Licht gesprochen, wie das war, als 2015 die Flüchtlinge auch in Oberhausen ankamen. Und er hat erklärt, wie diese Sache die Leute zusammen geschweißt hat und was es für Konflikte gab. Und dann haben wir über den Genossen A. Shapiro geredet. Einmal war ich mit Burak Hoffmann bei den Oberhausener Tafeln; wir haben da mit einigen Leuten gesprochen, hätten was zu Essen bekommen, aber wir wollten niemandem was wegnehmen. Wenn das als Recherche gilt, dann war das eine.
Helfen oder Diskutieren, was war 2015 für dich tonangebend?
Helfen (meine Freundin hat Wagenladungen voll mit Notwendigem gesammelt, vor allem Drogeriebedarf, ich hab viel davon zugesteuert). Diskutieren? Ich hab über den erwartbaren Rechtsruck geschrieben.
Warum thematisierst du in deinem Stück eine andere Kunstform?
Das habe ich schon öfter gemacht; in Oberhausen häuft es sich. Das gibt die Möglichkeit, zu hinterfragen, was wir als Theaterschaffende auch selber machen. Wer nicht vom aktionistischen Kunst-Film bis zum Theater denken kann, wird’s schwer haben, von der Tapete bis zur Wand zu gelangen.
Was interessiert dich besonders an den Figuren Amir und Renee?
Ich sag’s mal so: Ich hab als Kind und Jugendlicher eine Art Karate gemacht. Bei einem Russen, Wladimir O. Dexbach, der war auch Fitnessclubbetreiber und weiß ich nicht was noch. Er hat mir mal eine passende Weisheit in mein Budo-Heft geschrieben. Das war so eine Art Mitgliedsbuch, in dem auch Erfolge usw. vermerkt wurden (bei mir ohne Witz: "Bester Techniker", Landesmeister Sachsen-Anhalt, also Vorsicht!). Dexbach schrieb: "Am Fuße eines Leuchtturms ist es immer dunkel." Clever, nicht?
Dirk Laucke, geboren 1982, ist in Halle aufgewachsen. Er hat Psychologie in Leipzig und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin studiert. 2006 erhielt er eine Einladung zu den Salzburger Festspielen. Für seine mittlerweile weit über 20 Stücke, die als realitätsnahe und feinfühlige Milieustudien interpretiert werden, erhielt er zahlreiche Preise. 2007, 2010 und 2015 war Laucke zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen; 2007 ist er von „Theater Heute“ zum Autor des Jahres gewählt worden.
Seine Stücke sind bissige Zeitkommentare: In „Furcht und Ekel" (2014) montierte Laucke aufbauend auf Augenzeugenberichten und Zeitungsmeldungen kurze Spielszenen, die nicht nur von Neonazis handeln, sondern auch von der schweigenden Mehrheit, die den Hass gewähren lässt. Die Themen Nationalsozialismus, Gruppendynamik, Ausgrenzung und das Dasein von Globalisierungsverlierern beschäftigen den Autoren in seinen Theaterstücken und Hörspielen immer wieder. 2015 erschien sein Roman „Mit sozialistischem Grusz", anschließend hat er eine Polit-Oper und weitere Stücke geschrieben. In der Spielzeit 2017/18 war er Hausautor am Theater Oberhausen.
Mehr Informationen zur Uraufführung gibt es hier:
http://www.theater-oberhausen.de/programm/stuecke.php?SID=608